Lehmbruck Museum, Duisburg
Ein neuartiger Figurenstil
Mit der Großen Sinnenden entwickelte Wilhelm Lehmbruck seinen neuartigen Figurenstil weiter: Mit dieser überlebensgroßen, schlanken, weiblichen Aktfigur verabschiedete sich der Künstler endgültig von den Prinzipien klassischer Figurengröße und Maßstäblichkeit. (Die Große Sinnende ist gleichzeitig die letzte ganzfigurige Frauendarstellung Lehmbrucks.)
In die Länge gezogen
Die Figur ist von vertikalen Formen bestimmt. Über einem fast quadratischen Sockel positioniert, erhebt sie sich in über zwei Meter Höhe.
Unnatürliche Proportionen
Insbesondere der lange Hals und der verhältnismäßig kleine Kopf wirken unnatürlich gelängt. Der Blick ist nicht fokussiert und evoziert keine Interaktion mit den Betrachtenden.
Ein Körper aus Einzelteilen
Die Körperpartien der Großen Sinnenden sind als Einzelformen konzipiert: Die säulenartigen Beine, das runde Becken, der konisch geformte Oberkörper und die kugelförmigen Brüste wirken wie aus Einzelteilen zusammengesetzt. Die neutrale Schlichtheit der Figur wird dadurch unterstrichen, dass ihr der Künstler keine individuellen Züge verleiht.
Die Sinnende als Symbolfigur
Auch der Titel verweist darauf: Lehmbruck ging es bei der Gestaltung nicht um eine reale Person, sondern vielmehr um die Gestaltung einer Symbolfigur: den Typus einer melancholisch-nachdenklichen, in sich gekehrten und versunkenen Frau.
Große Sinnende
Wilhelm Lehmbruck
1913
211 × 51 × 43,5 cm
Bronze (Guss posthum)
Seit 2019 Dauerleihgabe aus Privatbesitz
Das Lehmbruck Museum gehört zu den renommiertesten Museen für internationale Skulptur von der Moderne bis zur Gegenwart. Das Oeuvre Wilhelm Lehmbrucks ist das Herzstück seiner Sammlung. Die Große Sinnende zeigt exemplarisch, wie Lehmbruck dem geometrisch konstruierten Körper Innerlichkeit und Lebendigkeit verleiht. Die Überlängung der Glieder und die Größe der Figur wirken einer lebensnah proportionierten weiblichen Darstellung entgegen und lenken die Konzentration auf den seelischen Ausdruck.
Lehmbruck Museum, Duisburg
Winterlandschaft (Hülltoft-Hof bei Seebüll)
Emil Nolde
1930/35
34,3 × 45,5 cm
Aquarell auf Japanpapier
Erworben 1964
Noldes künstlerische Vision war eng mit seiner Heimat Schleswig-Holstein verbunden. Er fühlte sich so stark mit dieser Region verbunden, dass er 1902, als Emil Hanson geboren, den Wahl-Nachnamen Nolde annahm – den Namen seines Geburtsortes. Er verbrachte den größten Teil seines Lebens in dieser Gegend.
Die Landschaften rund um sein Haus in Seebüll dienten ihm immer wieder als kreative Quelle, so auch in diesem Aquarell, in dem Nolde ein Bauerngehöft zeigt. Die sanften Lila-, Gelb- und Orangetöne des Himmels wirken wie ein Sonnenauf- oder Sonnenuntergang. Darunter liegt ein friesisches Gehöft, eingebettet in eine schneebedeckte Landschaft. Die Farben fließen über das Papier, die Grenzen zwischen Himmel und Erde verschwimmen. Ohne das Element des Gehöfts könnte man die Bildfläche für reines Farbenspiel auf einer abstrakten Leinwand halten.
Lehmbruck Museum, Duisburg
ORThogonale
Annette Wesseling
1997
Jeweils 32,3 × 23,5 × 14,5 cm
Serie von 7 Foto-Leuchtkästen; MDF, Leuchtstoffröhren, CIBA-Transparente
Erworben 1998
In dieser frühen Arbeit ORThogonale der Wilhelm Lehmbruck Stipendiatin Annette Wesseling stehen Spiegelungen und Gegenbilder im Mittelpunkt. Sie nutzte farbige Fotografien von Gebirgsketten, Talsenken, Gipfeln und Wolkenformationen aus den Alpen, die sie als Dias entwickeln ließ. Sie dreht jeweils zwei identische Dias um 90 Grad und präsentiert sie spiegelverkehrt in Leuchtkästen. Durch diese achsensymmetrische Spiegelung verwandeln sich schroffe horizontale Gipfelzüge in steil aufragende Schluchten, in teils amorphe Formen, deren ursprüngliche gegenständliche Grundlage nur noch schwer erkennbar ist. Vielmehr erinnern sie an das monotypische Druckverfahren der Décalcomanie (Abklatschtechnik), das im frühen 20. Jahrhundert sowohl in der Psychoanalyse als auch im Surrealismus große Beliebtheit erfuhr.
Lehmbruck Museum, Duisburg
Room of One´s Own
Lynn Hershman Leeson
1990-1993/2006
38 × 40,5 × 89,5 cm
Digital gesteuerte, interaktive Ton-Bild-Installation / ursprünglich computerbasierte, interaktive Videoskulptur 1992/93, schwarze Box, Periskop, Miniaturschlafzimmer, Miniaturmonitor, Videoprojektor, Videokamera, Videodiskplayer, Videodisk, Mikrocomputer, Klangsystem, Lautsprecher, Sensoren
Erworben 2000
In dieser Arbeit werden die Betrachtenden gewissermaßen in eine „Peepshow“ hineingezogen: Durch die kleine Öffnung eines Periskops blicken sie in ein Miniatur-Schlafzimmer, in dem sich ein Bett, ein Stuhl, ein Teppich, ein Telefon, Kleidung und ein Fernseher befinden. Durch das Ausrichten des Periskops werden verschiedene Videos ausgelöst, die die weibliche Bewohnerin in verschiedenen Darstellungen zeigen. Gleichzeitig sind Fragen, Forderungen oder Proteste der Figur zu hören. Die Betrachtenden werden konsequent mit ihrer Rolle als Voyeur:innen konfrontiert, indem ihre Augen in Nahaufnahme und in Echtzeit erfasst werden und auf einen kleinen Fernsehmonitor im Raum übertragen werden. Dadurch wird der Blick der Betrachtenden quasi umgekehrt, und die Grenzen zwischen aktivem Subjekt und passivem Objekt verschwimmen.
Lehmbruck Museum, Duisburg
Angst – Neonstück
Ludger Gerdes
1989
160 × 400 × 13 cm
Acryl, Metalleinfassung
Erworben 2011
Ab Ende der 1980er-Jahre entstanden aus Gerdes‘ Auseinandersetzung mit Sprache skulpturale Wortarbeiten, bestehend aus großformatigen, neongelben Buchstaben. Diese Werke erinnern in ihrer Ästhetik an Leuchtreklamen, sind jedoch vielfältig interpretierbar. Bevorzugt präsentiert er sie im öffentlichen Raum. Es geht Gerdes in seinen Wortarbeiten nicht darum, dem Publikum leicht konsumierbare Kunst anzubieten, sondern „Denkmodelle“ und „visuelle Metaphern“, die dazu anregen, eigene Überlegungen anzustellen.
Während Anatols Stahltisch ein unheimliches Bedrohungsgefühl hervorruft, konfrontiert Gerdes direkt mit diesem Gefühl in Form von Worten. Das Wort, geschrieben in Serifen, dient als direkter Schlüssel zu den eigenen Emotionen und Erfahrungen, und verwandelt auf eindrucksvolle Weise den Raum, in dem es präsentiert wird.
Lehmbruck Museum, Duisburg
Kopf einer alten Dame (Madame Germain)
Wilhelm Lehmbruck
1913
52,3 × 15,7 × 19,9 cm
Gipsguss, weiß, terrakottafarben gefasst
Erworben 1926
Die Portraitplastik Kopf einer alten Dame (Madame Germain) stellt eine eher untypische Arbeit in Wilhelm Lehmbrucks künstlerischer Herangehensweise dar. Die ausdrucksstarke Kopfplastik zeigt das zerfurchte und vom Leben gezeichnete Gesicht einer alten Frau. Deutlich sichtbar sind die Arbeitsspuren in dem aus einem Tonklumpen herausgearbeiteten Gesicht, das als Modell für den späteren Guss diente. Abhängig von Lichteinfall und Betrachtungswinkel verändern sich die Konturen der Dargestellten; mal sind die Gesichtszüge klar erkennbar, dann wiederum scheinen sie sich zu verflüchtigen.
Lehmbrucks Ziel ist es weniger, die Dargestellte realistisch abzubilden, sondern vielmehr die psychische Innenwelt aus dem Körperlichen aufleuchten zu lassen. Er möchte die inneren Gefühle und Gedanken der Person in ihrer äußeren Erscheinung zum Ausdruck bringen.
Lehmbruck Museum, Duisburg
SA
Keith Sonnier
1969 –1974
186 × 172 × 45 cm
Neonröhren (grün, gelb, rot), Transformator
Dauerleihgabe des Freundeskreises seit 1996
Werke aus farbigem Licht machten Keith Sonnier bekannt. Leuchtröhren faszinierten ihn aufgrund ihrer energetischen Qualität: die kontinuierliche Bewegung der Edelgase Neon und Argon sowie ihre Ausstrahlung in den Raum.
Lineare Beschaffenheit und Formbarkeit der Röhren ermöglichen ein Zeichnen mit Licht und Farbe. Die Lichtdiffusität erlaubt es, mit verschiedenen architektonischen Ebenen in Interaktion zu treten. Sonnier erforscht die Wirkung des Lichts auf Materialien, Raum und Betrachtende. Es geht ihm darum, „Seherfahrungen und physikalische Phänomene in ‚einer‘ Erscheinungsform wahrnehmbar zu machen und durch Positionsveränderung der Sehweise ein Abfärben zu erreichen.“ ¹
¹ Keith Sonnier zitiert nach: Sabine B. Vogel, in: Keith Sonnier: Kunst als Kommunikation, in: Artis. Das aktuelle Kunstmagazin, 42. Jahrgang, Bern 1990, S. 39.
Lehmbruck Museum, Duisburg
Fügemagozó / Feigenentkerner
István Harasztÿ
1970
250 × 150 × 30 cm
Kinetische Plastik aus Stahl, Messing, Acryl, elektrische Installation
Dauerleihgabe des Freundeskreises seit 1978
Die bis ins kleinste Detail feinsäuberlich konstruierte Maschine des ungarischen Künstlers István Harasztÿ bewegt mehrere kleine Kugeln in einem kontinuierlichen Bewegungskreislauf: Über einen kleinen Aufzug werden sie in die Höhe befördert und auf komplizierte Rutschbahnen gesetzt, die sie wieder nach unten befördern. Die dabei entstehenden Geräusche und Lichteffekte erinnern an die Schrott-Maschinen von Jean Tinguely sowie an die mechanischen Konstruktionen von Michael Sailstorfer, die den Raum mit ihren alle Sinne ansprechenden Werken erfüllen.
Harasztÿs Maschinenskulpturen waren Teil seiner Erforschung der kinetischen Kunst und der Beziehung zwischen Technologie und Kunst. Sie zielen darauf ab, traditionelle Vorstellungen von Kunst in Frage zu stellen und das Publikum in eine aktive und partizipative Erfahrung zu verwickeln.
Lehmbruck Museum, Duisburg
Ohne Titel
Jürgen Klauke
1977
9 × 4 × 11 cm
Bronze
Erworben 1981
Jürgen Klauke beschäftigt sich mit der Thematik multipler Identitäten und Geschlechter. Er nutzt seinen Körper als Leinwand für persönliche Geschlechtertransformationen. Seine Kunstwerke sind kraftvolle Ausdrücke seines Wunsches, soziale Normen zu destabilisieren und alternative Formen der Selbstinszenierung zu erforschen. Sie streben danach, die klare Trennung der Geschlechter als Illusion und konstruiertes Konzept zu entlarven.
Seine Kunst provoziert die Auseinandersetzung mit kulturellen Codes und Erwartungen zum Thema Erotik und Fetischismus. In diesem Werk schafft Klauke eine visuelle Verbindung zwischen einem Objekt der Begierde (Schuh) und dem Körper (Fuß). Diese Darstellung kann alles von Faszination bis hin zu Unbehagen hervorrufen, da sie Tabus und soziale Normen in Bezug auf Sexualität und Erotik herausfordert.
Lehmbruck Museum, Duisburg
Softer catwalk in collapsing rooms
Aernout Mik
1999
175,5 × 500 × 750 cm
Film auf DVD (Loop), Installation: 10 geformte Wandelemente, 1 Türsturz, 1 Tür, 1 Rückpro-Leinwand, 1 Beamer
Erworben 2004
Der niederländische Künstler Aernout Mik verbindet in seinen Arbeiten bewegte Bilder, Skulptur und Architektur zu begehbaren Rauminstallationen. Seine fiktiven Szenarien bewegen sich zwischen Dokumentation und Performance, ohne dabei einem strengen Erzählstrang zu folgen.
In dieser Installation verwendet Mik erstmals einen transparenten Bildschirm, der in eine gebogene Wand integriert ist. Die Projektion wird somit Teil der Architektur. Wir beobachten, wie Personen sich durch das Innere eines verfallenen Gebäudes bewegen. Während die Räume zusammenbrechen, schlendern sie gleichgültig und scheinbar ziellos durch die Trümmer. Es scheint, als würden sie ihre Umgebung und einander nicht wahrnehmen. Die Absurdität der Arbeit wirft die Frage auf, was als normales und abnormales Verhalten inmitten von Katastrophen betrachtet werden kann.
Lehmbruck Museum, Duisburg
Transformation zweier Quadrate
Ingo Glass
2006
120 × 160 × 120 cm
Aluminium, pulverbeschichtet, 2 Teile
Erworben 2007
Ingo Glass‘ künstlerisches Schaffen dreht sich um die drei Grundformen Kreis, Quadrat und Dreieck sowie um die Grundfarben Rot, Blau und Gelb. Er weist jeder Form eine Farbe zu. Die Farbenzuordnung entnimmt er der Bauhaus-Theorie, tauscht allerdings die Farben für Kreis und Quadrat aus.
Diese Form-Farb-Elemente kombiniert Glass zu skulpturalen Installationen. Er platziert sie im Raum, fügt sie ineinander, durchbricht sie und schafft eine Öffnung. Die Grundelemente werden mithilfe von Laserschnitt aus Aluminiumplatten gefertigt und mit RAL-Farben pulverbeschichtet. Sie besitzen sowohl eine äußere Form als Kreis, Dreieck oder Quadrat als auch eine innere Form, die von der äußeren abweichen kann und Durchblick schafft. Durch eine Mischung aus Strenge und spielerischem Gestalten schafft er „konkrete“ Konstellationen von kontemplativer Kraft.